Ostorientierung
von Ernst Niekisch
Die Politik Bismarcks war ganz auf den europäischen Horizont abgestimmt, und nur innerhalb dieses Horizontes konnte sie die Erfolge erringen, die ihr zuteil wurden. Deutschland, das Land der Mitte, stieg zur Großmacht empor; doch setzte der Fortbestand dieser Großmacht voraus, dass die europäischen Nachbarn, von denen Deutschland umgeben war und die auf die deutschen Grenzen drückten, sich in Schach hielten. Diese Nachbarn mussten sich gegenseitig in Schach halten; nie durfte es dazu kommen, dass sie sich zusammenschlössen, um gemeinsam gegen die europäische Mitte, gegen die Großmacht Deutschland, vorzugehen. Nicht einfach durfte die deutsche Politik sein; es gab kein eindeutiges Rezept, an welches sie sich halten konnte, das immer und unter allen Umständen wirksam war. Mit fünf Kugeln spielte Bismarck; als seinen Nachfolgern dieses Spiel zu kompliziert wurde und sie es infolgedessen vereinfachten, ging es mit der Großmacht Deutschland zu Ende. An eine Grundnotwendigkeit allerdings war Deutschlands Großmachtpolitik gebunden. Schon Friedrich der Große hatte auf sie in seinen politischen Testamenten hingewiesen. Immer sollte Preußen, dies war der Rat, den Friedrich seinen Nachfolgern gab, auf gute Beziehungen mit Russland achten. Bismarck hielt diesen Rat für so wichtig, dass er ihn auch für sein Reich nutzbar machte. Der Draht nach Petersburg durfte nicht abreißen, wenn die deutsche Machtstellung nicht erschüttert werden sollte. Gegen England, Frankreich und auch Österreich ließ sich jederzeit die russische Karte ausspielen, wenn verhindert werden musste, dass ein geschlossener Ring um Deutschland zustande kam. Als die russische Karte den deutschen Händen entglitten, als der Zweibund entstanden und gar die Triple-Allianz ins Leben getreten war, war die deutsche Lage aussichtslos geworden. Der Ring um Deutschland war geschmiedet, und im August 1914 setzten die Verbündeten zu dem Druck auf die deutschen Grenzen an, dem die Großmacht Deutschland unvermeidlich erliegen musste.
Die Weimarer Republik war nicht mehr bloß wie das Hohenzollernreich in den europäischen Horizont hineingestellt. Ganz neue weltpolitische Probleme waren entstanden, als sich Amerika und Japan zu Großmächten emporgeschwungen und Russland sich als eine dynamisch-revolutionäre Macht konstituiert hatte. Deutschland hatte Großmacht werden können im Rahmen des europäischen Horizonts. Die Weimarer Republik aber hatte mit Konstellationen ganz anderer und neuer Art zu rechnen. Im Rahmen des Welthorizontes war es dem Deutschen Reich nicht mehr möglich, isoliert stark zu sein; mit einer Weltmacht musste es sich verbünden. Wieder lag es nahe, den Blick auf Russland zu werfen. Dieses revolutionäre Russland war freilich in den Jahren nach 1920 noch schwach. Doch gehörte nicht viel politischer Weitblick dazu, um zu erkennen, dass dieser Staat in die Höhe strebte und dass er genug Voraussetzungen in sich barg, auch in der Tat in die Höhe gelangen zu können. Näherte sich die Weimarer Republik diesem Russland, dann hatte sie das deutsche Schicksal mit einer Tendenz verknüpft, die nach oben führte; Hand in Hand mit Russland durfte die deutsche Republik einer großartigen Zukunft entgegenblicken.
Nun aber machten sich in der Weimarer Republik Umstände geltend, die diese daran hinderten, ihre Chancen zu ergreifen. Es zeigte sich, dass der bürgerliche Mensch und die bürgerliche Ordnung Deutschland zum Verhängnis gereichen mussten. Aus Gründen bürgerlicher Selbsterhaltung, aus bürgerlicher Sozialangst hielt sich die Weimarer Republik Russland fern, sie mied das Bündnis mit Russland. Die ganze deutsche politische und geschichtliche Zukunft wurde preisgegeben, um die bürgerliche Ordnung auf deutschem Boden zu erhalten. Ganz reibungslos freilich ging dies nicht: Ein Jahrzehnt hindurch kam der Kampf um die außenpolitische Orientierung auf deutschem Boden nicht zum Schweigen.
Schließlich aber fiel die Entscheidung doch endgültig zugunsten der Westorientierung. Stresemann hatte diese Entscheidung in Locarno vorbereitet; getroffen wurde sie alsdann von Hitler. Wie naturwidrig sie für Deutschland war, trat erschreckend darin zutage, dass sie zugleich auch völlig sinnlos wurde. Das nationalsozialistische Deutschland warf Russland den Fehdehandschuh hin, bezog die antirussische, die antibolschewistische Position, ohne sich gleichzeitig des Rückhalts im Westen, für den es sich prinzipiell entschieden hatte, zu sichern. Ja mehr noch, es brachte das Unwahrscheinliche zustande, zu dem allerdings schon die deutsche Politik zwischen 1890 und 1914 ein Vorbild gegeben hatte, die Westmächte mit ihrem prinzipiellen Gegenpol Russland in einer Front zu vereinigen. Das antibolschewistische Deutschland kämpfte nicht nur gegen Russland, sondern zugleich auch gegen dessen grundsätzliche Feinde England, Frankreich und Amerika. Dies war der Gipfel der Verrücktheit, in dem sich offenbarte, in welche Geistesverirrung das deutsche Volk geraten war. Im Wirbel solchen Wahnsinns musste Deutschland unaufhaltsam zugrunde gehen. Nach 1945 konnte es nicht dem Schicksal vorbeugen, von den beiden großen Weltmächten aufgeteilt zu werden. Alle Voraussetzungen zu einer eigenen Politik waren dahingeschwunden. Westdeutschland zog die Konsequenz jener bürgerlich bestimmten Westorientierung der Weimarer Republik. Es warf sich vorbehaltlos in die Arme des Westens; es wollte sich unter amerikanischen Schutz stellen, es wollte von westlichen Gruppen besetzt bleiben. Es sagte bewusst dem deutschen Patriotismus ab und wollte ihn durch einen „europäischen Patriotismus“ ersetzen. Die Impulse einer deutschen Politik waren restlos erdrosselt; man wollte keine deutsche Politik mehr.
Das Grundanliegen einer deutschen Politik wäre in erster Linie die Wiedervereinigung Deutschlands gewesen. Das deutsche Bürgertum hatte auch das einheitliche Deutschland im Herzen abgeschrieben. Die Politik, welche die Bundesrepublik im Einverständnis und im Benehmen mit den Westmächten trieb, richtete einen Damm nach dem anderen gegen die deutsche Wiedervereinigung auf. Das westdeutsche Bürgertum beschwichtigte dabei sein Gewissen damit, dass es das alte Karolingerreich erneuern, dass es das „Abendland“, für welches die Gebiete östlich der Elbe nur unwesentliches Kolonialland waren, zu neuer Blüte erwecken wolle.
In meinen früheren politischen Bemühungen und Entwürfen hatte ich stets vorausgesetzt, dass sich Deutschland als gleichberechtigte und gleichgewichtige Macht mit Russland freundschaftlich ins Benehmen setze. Wie ganz anders war dies nun seit 1945 geworden! Alle weltpolitischen Chancen, welche Deutschland an Russlands Seite besessen hätte, waren durch Hitler verspielt und vertan worden. Deutschland war für Russland kein gleichwertiger Partner mehr, und auch die Deutsche Demokratische Republik war beim besten Willen nichts anderes als ein armer Schlucker, der ausschließlich von der Gnade Russlands lebte.
Aber eben, indem dies so war, wurde sie vor dem Schicksal bewahrt, Amerika anheimzufallen. Aus dem Umkreis der amerikanischen Macht gab es kein Entrinnen mehr, in der Wohlstandssicherung, die dort winkte, erstarb schlechthin der Wille zu einem eigenen deutschen Dasein. Die Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik war demgegenüber infolge ihrer inneren Ablehnung der russischen Überfremdung dagegen gefeit, widerstandslos mit der östlichen Schutzmacht zu verschmelzen. Zwar erschien es auch ihr verlockend, im Bannkreis der amerikanischen Macht, wie die westdeutsche Bevölkerung, selbstvergessen unterzutauchen. Indessen waren ihr Lebensgefühl und ihre Wertmaßstäbe, ohne dass sie sich dessen bewusst geworden war, in den gesellschaftlichen und politischen Institutionen der Deutschen Demokratischen Republik doch so geformt und zurechtgebogen worden, dass sie den amerikanischen Lebensstil, wäre sie plötzlich in ihn hineingeraten, als fremdartig und unangemessen empfunden hätte. Dies war es nicht, so etwa hätte sie sich selbst eingestehen müssen, was sie eigentlich gesucht hatte. Verhärtete bürgerliche und großbäuerliche Schichten gab es in der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr – schon längst waren sie in die Bundesrepublik abgewandert, für den Arbeiter und Kleinbürger aber war die amerikanisierte Gesellschaftsordnung des Westens kein Zuhause. Vielleicht ist die Deutung erlaubt, daß ein heimlicher, bisher verdeckter preußischer Protest sich in den Herzen dieser Menschen wieder geregt hätte.
Es wäre der Anfang eines – täuschen wir uns nicht – langen und schweren Weges, aber ein Anfang, eine Hoffnung gewesen.
Der Weg an der Seite Amerikas hingegen war zwar eine gegenwärtige Erleichterung, doch war er ohne Zukunft; er führte für Deutschland zu einem geschichtlichen Ende.
Erst recht ist seit 1945 der Westen für Deutschland die verhängnisvolle Versuchung zur Selbstaufgabe; der Osten ist die opferreiche Prüfung zur Selbstbehauptung. Der deutsche Westen ist der Versuchung bereits erlegen. Die bange Frage erhebt sich, ob der deutsche Osten seine Prüfung bestehen wird. Die vielen Republikflüchtigen sind Bürger, die der Prüfung entlaufen sind; sie waren ihr nicht gewachsen.
Der Text ist in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von Ernst Niekisch* geschrieben und in dem Band „Gegen den Strom 1945-1967 (Erinnerungen eines deutschen Revolutionaürs, Band 2)“ veröffentlicht worden.
*Ernst Niekisch (25. Mai 1889 – 23. Mai 1967) war ein deutscher Sozialist, Schriftsteller und Revolutionär. Geboren als Sohn eines Feilenhauers war er in proletarischen Verhältnissen im damaligen Schlesien aufgewachsen, besuchte er ein Lehrerseminar und wurde Volksschullehrer. Als Kriegsgegner trat er 1917 der SPD bei, von wo er zur USPD ging. Nach der Novermberrevolution war er Mitglied der Räteregierung in München 1918/1919, wo er zeitweise als der Leiter der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte in Bayern der mächtigste Mann war. Nach deren Scheitern und einer darauf folgenden Haftstrafe, entwickelte er in den zwanziger Jahren eine nationalrevolutionäre Weltanschauung, die nationalistische und sozialistische Zielsetzungen miteinander zu verbinden suchte. Niekisch ist seit 1926/27 Herausgeber der Zeitschrift „Widerstand“. Als der Kreis um Niekisch um 1930 Zulauf aus dem Bund Oberland um Beppo Römer erhält, nimmt die „Widerstandsbewegung“ organisatorische Gestalt an. Kontakte reichen zu Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaftern, aber auch zu oppositionellen Militärs, Polizeikräften und Geistlichen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird der „Widerstand“ zum Sammelpunkt der nationalrevolutionären Opposition gegen Hitler, deren geistiges Haupt Niekisch ist. Der Versuch, durch Kontakte zu Römer und dem zur KPD übergetretenen Reichswehroffizier Scheringer eine nationalrevolutionäre Anti-Hitler-Front zu bilden, führt allerdings nicht zum Erfolg. Am 22. März 1937 wird Niekisch wegen seiner unermüdlich verfassten Betrachtungen über das „Dritte Reich“ verhaftet und im Januar 1939 zusammen mit Joseph Drexel und Karl Tröger vom Volksgerichtshof zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. 1945 in schlechter gesundheitlicher Verfassung aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden befreit, bleibt Ernst Niekisch nach dem Kriegsende bis zu seinem Tod 1967 eine Anerkennung als Widerstandskämpfer und Opfer des Nationalsozialismus versagt. Nach seiner Befreiung aus dem Zuchthaus durch die Rote Armee trat Ernst Niekisch 1945 der KPD bei, von wo er, nach deren Vereinigung mit der SPD in die SED übernommen wurde, der er bis zu seinem Tod angehörte.